Irans Raketenarsenal: Die gefährlichste Waffe der Ayatollahs (2024)

Irans Raketenarsenal: Die gefährlichste Waffe der Ayatollahs (1)

Der Angriff auf die saudische Erdölindustrie hat die Möglichkeit demonstriert, einen Gegner tief in seinem Hinterland zu treffen. Die Bedrohung durch iranische Raketen wächst auch für Israel und Europa.

Es war nur ein kleines Poster am Rande einer Ausstellung in Teheran. Im Februar 2019 präsentierte die Islamische Republik zur Feier ihres 40-Jahr-Jubiläums stolz ihr Waffenarsenal. Etwas versteckt auf einer Grafik stellte sie die neue Rakete des Typs Khorramshahr-2 vor, die über eine präzise Steuerung und eine Reichweite von 2000 Kilometern verfügen soll. Es war jedoch eine andere Zahl, die in Paris, London und Berlin Besorgnis erregte: das Gewicht des Sprengkopfes. Mit 1500 Kilogramm war er fast dreimal so schwer wie ein üblicher iranischer Raketensprengkopf. Würde man ihn in einer technisch simplen Modifikation durch einen solchen ersetzen, stiege die Reichweite der Khorramshahr auf über 3000 Kilometer.

Iran hatte stets beteuert, 2000 Kilometer seien ausreichend, um die Feinde der Islamischen Republik zu treffen. Daher habe man im Moment kein Interesse an höheren Reichweiten. Das könne sich natürlich ändern, sollten andere Staaten eine feindliche Position einnehmen. Die Khorramshahr bewies, dass Irans subtile Drohung kein Bluff war. Teheran hatte die technische Fähigkeit erlangt, grosse Teile Europas ins Visier zu nehmen.

Folge der Unterlegenheit

Irans Raketen scheinen geradezu omnipräsent. Sie bedrohen Europa, sie schlagen in saudischen Raffinerien ein, sie tauchen im Irak auf, sie werden von jemenitischen Rebellen auf saudische Ziele geschossen. Doch wie kam es dazu, dass Iran heute über eines der grössten Raketenarsenale der Welt verfügt und Raketen zu einer zentralen Säule seiner Sicherheitspolitik wurden?

Wie so viele Eigenheiten der Islamischen Republik geht auch diese auf die dunklen Tage des Iran-Irak-Kriegs zurück. Mitte der achtziger Jahre hatte sich der blutige Krieg zwischen den beiden Ländern zunehmend festgefahren. Um den Druck auf den Gegner zu erhöhen, befahl der irakische Staatschef Saddam Hussein seinen mit französischer und sowjetischer Hilfe hochgerüsteten Luftstreitkräften Angriffe auf iranische Grossstädte. Die maroden iranischen Streitkräfte sahen sich weder in der Lage, die Luftangriffe abzuwehren, noch Vergeltung zu üben. Irans Revolutionswächter fanden schliesslich die Lösung in ballistischen Raketen. So technisch veraltet die wenigen von Libyen und Nordkorea bereitgestellten Scud-Raketen damals schon gewesen sein mochten, so war doch keines der irakischen Abwehrsysteme in der Lage, die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit heranrasenden Raketen abzufangen. Ab sofort würde jeder irakische Luftangriff auf Teheran, Isfahan oder Shiraz eine Antwort Irans nach sich ziehen. Der Blick westlicher Experten auf den Raketeneinsatz am Golf fiel damals noch abfällig aus: ein kruder und militärisch sinnloser Schlagabtausch zweier Drittweltdiktaturen, die nichts Besseres im Sinn hatten, als sich gegenseitig zu terrorisieren.

Aus der Sicht der Revolutionswächter ergab sich jedoch ein völlig anderes Bild. Iran hatte bewiesen, dass ballistische Raketen auch bei gegnerischer Luftüberlegenheit die strategische Tiefe des Gegners empfindlich treffen konnten. Sicher waren Irans Scuds damals noch zu ungenau und zu gering in der Zahl, um eine konkrete militärische Wirkung zu erzielen. Doch dafür besassen die Raketenangriffe einen umso bedeutenderen psychologischen Effekt. Sie verbreiteten nicht nur Angst und Schrecken unter der Zivilbevölkerung, sondern demütigten auch einen Gegner, der sich trotz seiner materiellen Überlegenheit ausserstande sah, die Angriffe auf seine Hauptstadt zu stoppen. In Iran, wo militärische Konflikte stets mehr unter politisch-psychologischen Gesichtspunkten gesehen werden als im von Technik und Taktik besessenen Westen, fand diese Fähigkeit Anklang. Würde man diesen Effekt durch den quantitativen und qualitativen Ausbau der Raketentruppe noch verstärken und mit bestimmten, auf den politischen Kontext abgestimmten Eskalationsszenarien verbinden, so würden sich ballistische Raketen in hochwirksame Instrumente der Kriegsführung und der Abschreckung verwandeln.

Mit dem Ende des Iran-Irak-Krieges und der Zerschlagung von Saddams Kriegsmaschinerie im Golfkrieg wandelte sich Teherans Bedrohungswahrnehmung schlagartig. Nun waren es nicht mehr Saddams Panzerkolonnen, sondern die Hightech-Armeen Israels und der USA, die Iran als grösste Bedrohung für seine nationale Sicherheit betrachtete. Doch ein Faktor blieb konstant. Erneut sah sich Teheran mit einem Gegner konfrontiert, der über eine massiv überlegene Luftwaffe verfügte. Und so besann man sich erneut auf die Lehren aus dem Iran-Irak-Krieg.

Über die nächsten drei Jahrzehnte investierte das Regime in Teheran Unsummen in den Aufbau eines Raketenprogramms. Anstatt Raketen wie bisher einfach zu kaufen, begann es, zunächst nordkoreanische Raketen selber in Lizenz zu produzieren und schliesslich eigene, auf Irans Bedürfnisse zugeschnittene Systeme zu entwickeln. Vielerorts entstanden gigantische unterirdische Basen, die Irans Raketenarsenal im Kriegsfall vor gegnerischen Luftangriffen schützen sollen. Auch die Reichweite der Raketen stieg rasant und erreichte bald die 2000-Kilometer-Marke, die es dem Land erlaubte, seinen Erzfeind Israel ins Visier zu nehmen.

Immer präziser

In den letzten zehn Jahren erlebte Irans Raketenprogramm in qualitativer Hinsicht geradezu einen Quantensprung. Mass man die Genauigkeit von Irans Raketen zuvor in Hunderten von Metern, so entwickelte das Land nun präzise Lenkwaffen, die auf wenige Meter genau treffen. Ballistische Raketen waren nicht mehr rein politisch-psychologische Druckmittel, sondern zugleich hocheffektive Waffensysteme. Iran setzte seine Raketen erstmals in dieser Funktion auch ein, zunächst gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat in Syrien, dann in einem gezielten Schlag gegen die Anführer einer kurdischen Rebellenorganisation im Nordirak. Ihrem Arsenal an ballistischen Raketen fügten die Revolutionswächter bald noch Marschflugkörper hinzu, gegen die übliche Raketenabwehrsysteme fast wirkungslos sind.

Weitaus bedeutender als alle technischen Details ist die Tatsache, dass die iranischen Generäle recht behalten haben. Raketen sind in der Tat ein wirkungsvolles Instrument der Abschreckung. Kaum eine Diskussion über einen möglichen Militärschlag gegen Irans Atomprogramm kommt ohne einen Verweis auf dessen Raketenstreitmacht aus. Irans Fähigkeit, in einem Zweitschlag israelische Städte, amerikanische Stützpunkte in der Region und Erdölanlagen unter Beschuss zu nehmen, wurde zum festen Bestandteil der militärischen Gleichung. Doch Irans Führung ging bereits vor Jahren einen Schritt weiter. Wenn man es geschafft hatte, mithilfe von Raketen ein Abschreckungspotenzial aufzubauen, warum sollte das Gleiche dann nicht auch für Irans Netzwerk von schiitischen Milizen funktionieren?

Das Pilotprojekt lieferte Irans ältester Verbündeter in der Region, der libanesische Hizbullah. Nach Israels Rückzug aus Südlibanon im Jahr 2000 begannen die Revolutionswächter, in enger Kooperation mit dem Asad-Regime Tausende von Artillerieraketen an die «Partei Gottes» zu liefern. Die Feuertaufe liess nicht lange auf sich warten. 2006 brach ein verheerender Krieg zwischen Israel und dem Hizbullah aus. Während Israels Landstreitkräfte bald in den Dörfern und Tälern Südlibanons steckenblieben, schossen die Kämpfer des Hizbullah Rakete um Rakete auf israelische Siedlungen. Wann immer die israelische Armee verkündete, man habe das feindliche Raketenarsenal nun grösstenteils vernichtet, intensivierte der Hizbullah den Beschuss am darauffolgenden Tag. Gleichzeitig hing die Drohung, man könne bald auch Tel Aviv treffen, wie ein Damoklesschwert über der Zivilbevölkerung.

Nach 34 Tagen akzeptierten beide Seiten einen Waffenstillstand, und die israelische Armee zog sich zurück, ohne ihre Kriegsziele erreicht zu haben. Über 4000 Raketen waren im Laufe des Konfliktes auf Israel niedergegangen. Für eine an demütigende Niederlagen gewöhnte arabische Öffentlichkeit war es ein Sieg des Hizbullah und von dessen grossem Bruder Iran. Bis heute garantiert das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Israels mächtiger Luftwaffe und den Raketen des Hizbullah ein gewisses Mass an Stabilität zwischen den beiden Parteien.

Das iranische Regime sah sich durch diese Erfahrung in seiner Strategie bestätigt und begann in der Folge, auch Gruppierungen in Gaza, Syrien, Jemen und im Irak mit Raketen aufzurüsten. Iran liefert nicht nur immer bessere Missile mit immer grösseren Reichweiten, sondern arbeitet auch fieberhaft daran, seinen Verbündeten die Eigenproduktion von Raketen zu ermöglichen.

Die Raketenarsenale der proiranischen Gruppierungen dienen verschiedenen Zielen. Zum einen beschränken sie – sei es durch ihren tatsächlichen Einsatz oder durch Abschreckung – den Handlungsspielraum von Irans Gegnern Israel und Saudiarabien. Zum anderen funktionieren sie als Erweiterung von Irans eigenem Abschreckungspotenzial. Viele von Teherans Klienten sind nicht nur vollständig von Iran abhängig, sondern erkennen auch dessen Revolutionsführer als oberste geistliche wie weltliche Autorität an. Es gibt wenig Zweifel daran, dass ihre Raketentruppen im Falle eines regionalen Krieges faktisch als Teil der iranischen Streitmacht agieren würden. Wie es der Gründer des iranischen Raketenprogramms einst ausdrückte: «Warum brauchen wir teure Raketen mit 2000 Kilometern Reichweite, wenn Tel Aviv nur 150 Kilometer von Südlibanon entfernt ist?»

Machtpolitischer Wandel

Bis jetzt tun sich der Westen und seine Verbündeten schwer mit einer Antwort auf Irans Raketenprogramm. Die riesigen Investitionen Israels, der USA und der Golfstaaten in verschiedene Raketenabwehrsysteme bieten, allen Hochglanzprospekten der Hersteller zum Trotz, in der Realität nur beschränkten Schutz. Israels Luftangriffe auf proiranische Kräfte in Syrien und im Irak verzögern zwar den Aufbau lokaler Raketenarsenale, bieten jedoch keine dauerhafte Lösung. Auch an der diplomatischen Front sieht es düster aus. Während die Administration Trump weiterhin unrealistische Maximalpositionen vertritt, weigert sich Iran, auch nur über sein Raketenprogramm zu verhandeln. Zwischen den Fronten harren die Europäer aus, die zumindest eine Beschränkung der iranischen Raketenrüstung zu erreichen versuchen.

Vielleicht hilft es, das iranische Raketenprogramm weniger als spezifisches Waffenprogramm und mehr als Symptom des globalen machtpolitischen und technologischen Wandels zu verstehen. Jahrzehntelang garantierte die Überlegenheit des Westens die Herrschaft über seine Lufträume und damit die Sicherheit seines eigenen Hinterlandes. Bis zu einem gewissen Grad galt dies auch für die Sicherheit seiner Verbündeten. Abgesehen von asymmetrischen Gefahren wie Terror wurde die Sicherheit des Hinterlandes geradezu zu einer Selbstverständlichkeit, die niemand hinterfragte. Wer befürchtete zum Beispiel während des Kosovo-Krieges ernsthaft einen jugoslawischen Angriff auf amerikanische Stützpunkte in Deutschland? Oder während Israels Einmarsch in Libanon 1982 einen Gegenangriff auf Tel Aviv? Mit der Verbreitung von Raketentechnologie und dem technischen Fortschritt ausserhalb des Westens bröckeln die alten Gewissheiten. Vielleicht waren die Iraner schlicht die Ersten, die die Zeichen der Zeit erkannten.

Fabian Hinz ist Politikwissenschafter und arbeitet am James Martin Center for Nonproliferation Studies in Monterey (USA).

Der Angriff auf Saudiarabien soll von einer Basis in Südiran aus erfolgt sein Die USA werfen Iran vor, mit der Attacke auf die saudische Erdölindustrie einen Akt des Krieges verübt zu haben. Nach inoffiziellen Angaben begann der Luftangriff auf dem Stützpunkt Ahwaz in Südiran und erfolgte über einen Umweg, um die Flugabwehr zu täuschen.

Andreas Rüesch

Der verheerende Angriff auf die saudische Erdölindustrie zeigt: Saudiarabien ist militärisch nicht vorbereitet für einen Krieg Die saudischen Flugabwehrsysteme stammen aus der Zeit des Golfkrieges 1991, und weder in der Luft noch am Boden kommen die Saudis ohne Unterstützung aus. Trotzdem schürt das Land seit Jahren den Konflikt.

Christian Weisflog, Beirut

Irans Raketenarsenal: Die gefährlichste Waffe der Ayatollahs (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Kelle Weber

Last Updated:

Views: 6390

Rating: 4.2 / 5 (53 voted)

Reviews: 92% of readers found this page helpful

Author information

Name: Kelle Weber

Birthday: 2000-08-05

Address: 6796 Juan Square, Markfort, MN 58988

Phone: +8215934114615

Job: Hospitality Director

Hobby: tabletop games, Foreign language learning, Leather crafting, Horseback riding, Swimming, Knapping, Handball

Introduction: My name is Kelle Weber, I am a magnificent, enchanting, fair, joyous, light, determined, joyous person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.